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FOLGEN VON REAKTORUNFÄLLEN

Dtsch Arztebl 2011; 108(13): A-700 / B-568 / C-568
Zylka-Menhorn, Vera; Richter-Kuhlmann, Eva A.; Meißner, Marc
Radioaktivität: Folgen von Reaktorunfällen – Fakten und Vermutungen
MEDIZINREPORT
http://www.aerzteblatt.de/v4/archiv/artikel.asp?id=82286
UN-Kommission veröffentlicht Ergebnisse zu den Auswirkungen der Kernschmelze in Tschernobyl 1986 auf Mensch und Umwelt. Zahlreiche Kritiker halten diese Zahlen jedoch für geschönt.

Die Nachrichten aus Japan über den Zustand der Reaktoranlage in Fukushima überschlagen sich seit Wochen. Wie immer auch die Lage sein wird, wenn diese Ausgabe des Deutschen Ärzteblatt gedruckt ist, so ist unbestritten, dass Menschen und die Umwelt um den Reaktor radioaktiv belastet wurden und werden. Welchem Risiko die „Tapferen“ direkt an der Strahlenfront, aber auch die Bevölkerung im Umkreis tatsächlich ausgesetzt sind, kann derzeit nicht abgeschätzt werden – auch wenn der Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz, Dr. Sebastian Pflugbeil, meint: „Wir sind in der Liga von Tschernobyl.“

Tschernobyl 1986: Durch mehrere Explosionen ist die Betonabdeckung des Reaktorblocks abgesprengt worden, so dass der Kernreaktor offen liegt und große Mengen radioaktiven Materials in die Umwelt bläst. Foto: Keystone

Die UN-Studie wird seit 2001 fortlaufend aktualisiert

Angesichts der Sorge um mögliche gesundheitliche Schäden der Betroffenen gewinnt ein Bericht der UN-Kommission UNSCEAR (United Nations Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation) zu den Folgen des Reaktorunfalls in Tschernobyl Beachtung. Die seit 2001 fortlaufende Studie wird in regelmäßigen Abständen aktualisiert. Die nunmehr vorliegende, 178 Seiten umfassende Analyse soll am 26. April, also genau 25 Jahre nach dem „Super-GAU“, auf der zentralen Gedenkkonferenz in Kiew vorgestellt werden. Der neue Bericht sei stark erweitert worden, sagte Malcolm Crick, Generalsekretär von UNSCEAR am 14. März in Wien, wo die Eckdaten des Berichts vorgestellt wurden. Er umfasse nun die Daten von mehr als 500 000 Arbeitern, die während und nach dem Unfall vergleichsweise hohen Dosen an radioaktiver Strahlung ausgesetzt waren. Ebenso seien epidemiologische Daten über die radioaktive Belastung der Schilddrüse von circa 100 Millionen Menschen berücksichtigt worden.

Zu Erinnerung: Durch den Reaktorunfall in Tschernobyl war eine Fläche von 150 000 Quadratkilometern in Weißrussland, der Ukraine und Russland – damals die Heimat vonfünf Millionen Menschen – mit Radionukliden kontaminiert worden. Mehr als 330 000 Menschen, die nahe dem Reaktor lebten, mussten evakuiert werden. Darüber hinaus waren in Europa weitere 45 000 Quadratkilometer Landfläche – wenn auch regional unterschiedlich stark – der Strahlung durch Iod-131, Caesium-134 und Caesium-137 ausgesetzt.

„Radionuklide aus dem Tschernobyl-Release waren in allen Ländern der nördlichen Hemisphäre messbar“, heißt es im UN-Bericht. Insgesamt wurde durch den Atomkernzerfall eine Strahlungsmenge von über 2 × 1018 Becquerel (1 Becquerel entspricht der Aktivität einer radioaktiven Substanz pro Sekunde) in der Umwelt verteilt.

Daten zu Mortalität und Morbidität

Wie gefährlich sind diese Radionuklide für die Gesundheit der Menschen damals und heute? Können die Tschernobyl-Daten Hinweise auf die Langzeitwirkung geringer Strahlendosen geben? Bei der Bewertung der radioaktiven Belastung unterscheidet die UN-Kommission zwischen der akuten Hochdosisstrahlung, der die Arbeiter und das Rettungspersonal am Reaktor ausgesetzt waren, und der Jahrzehnte andauernden chronischen Niedrigstrahlung der Bevölkerung (siehe Dtsch Arztebl 2011; 108[11]: A 565).

In Tschernobyl sind die meisten Arbeiter gestorben, nachdem sie einer Ganzkörperstrahlendosis von mehr als 4 000 Millisievert (mSv) ausgesetzt waren. Die durchschnittliche effektive Dosis für die verschiedenen Personengruppen im Umfeld des Reaktors von Tschernobyl lag nach Angaben von UNSCEAR:

  • bei 120 mSv (von 10 bis 1 000 mSv) für die 530 000 Arbeiter und Nothelfer („Liquidatoren“), die über viele Monate mit der Reinigung der Reaktoranlage und der Konstruktion des Schutzmantels beschäftigt waren,
  • bei 30 mSv für 115 000 evakuierte Personen und
  • bei 9 mSv während der ersten zwei Jahrzehnte für diejenigen Menschen, die in den kontaminierten Gebieten weitergelebt haben,
  • bei unter 1 mSv im ersten Jahr nach dem Unglück für die europäischen Länder der nördlichen Hemisphäre, und graduell abnehmend in den Folgejahren.

Zum Vergleich: In Deutschland beträgt die mittlere Hintergrundstrahlung 2,1 mSv pro Jahr (mit regionalen Schwankungen zwischen 1 und 5 mSv). Und bei einer Strahlentherapie wird das Tumorgewebe mit 50 bis 60 Gray bestahlt, was einer Teilkörperstrahlendosis von 50 000 bis 60 000 mSv entspricht. Weil die Dosen über einen längeren Zeitraum verteilt werden, kommt es dabei nicht zu unmittelbaren Strahlenschäden.

Die Arbeiter im nahen Umfeld des Reaktors in Fukushima sollen mit einer Dosis vonetwa 170 mSv „verstrahlt“ worden sein. In Deutschland dürfen Erwachsene, die durch ihre Arbeit radioaktiver Strahlung ausgesetzt sind, innerhalb von fünf Jahren nicht mehr als 100 mSv aufnehmen, wobei in einem einzelnen Jahr nicht mehr als 50 mSv erreicht werden dürfen.

Verbrennungen, Infektionen und Hauttransplantationen

Für die UN-Kommission steht fest, dass von den 134 Menschen, die zum Zeitpunkt der Explosion im Atomkraftwerk beschäftigt waren, 28 innerhalb der ersten drei Monate an den Akutfolgen der Strahlenbelastung gestorben sind. Sie gehörten zu den 600 Arbeitern, die sich am Tag nach der Explosion auf dem Reaktorgelände befunden hatten. Weitere 106 entwickelten eine akute Strahlenkrankheit und mussten über Jahre wegen Verbrennungen, Infektionen und Hauttransplantationen behandelt werden. Bis 2006 starben aus ihrem Kreis 19 Personen, allerdings „aus unterschiedlichen, nicht unbedingt durch die Strahlung verursachten Ursachen“, heißt es in dem Bericht.

Bei den 530 000 Liquidatoren gebe es Hinweise auf „leicht erhöhte Raten“ an Leukämie und Katarakten. Es ist bekannt, dass Trübungen der Augenlinse durch relativ niedrige Strahlendosen verursacht werden. Darüber hinaus habe man keine Belege für strahlenbedingte Gesundheitsbeeinträchtigungen gefunden, bilanziert das UN-Komitee. Weitgehend unerforscht sei auch die Auswirkung von Radioaktivität auf die Entstehungvon Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Weitere Krebserkrankungen „sind nicht auszuschließen“

Für die allgemeine Bevölkerung sei ein erhöhtes karzinogenes Risiko bisher kaum auszumachen. Obwohl die UN-Experten Krebserkrankungen als Folge des Reaktorunfalls „nicht ausschließen können“, sei die Datenlage für eindeutige Assoziationen nicht ausreichend; sie verwiesen auf den schwelenden Streit unter Wissenschaftlern, ob es einen Schwellenwert für eine Schädigung durch radioaktive Strahlung gibt oder ob das Risiko linear zunimmt.

Fukushima 2011: Abtransport von Arbeitern, die am havarierten Atomkraftwerk so starker Strahlung ausgesetzt waren, dass sie in eine Klinik eingewiesen werden mussten.

Ein eindeutige Zuordnung zum Reaktorunglück sieht die UN-Kommission jedoch im Anstieg diagnostizierter Schilddrüsenkarzinome: Sprach sie lange Zeit von weniger als 2 000 zusätzlichen Krebserkrankungen, gelten nunmehr 6 000 als gesichert; 15 Patienten sind an den Folgen dieser Tumorform gestorben. Betroffen sind Menschen, die zum Zeitpunkt des Unglücks Kinder und Jugendliche (zwischen 0 und 18 Jahre) waren.

Die Schilddrüsenkarzinome sind vor allem auf den Verzehr von mit Iod-131 kontaminierter Milch und Blattgemüse zurückzuführen. „Die wahren Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit werden sich erst mit zunehmendem Alter der Betroffenen zeigen“, betonte der US-Radiologe Prof. Fred Mettler in Wien. Denn Schilddrüsenkrebs trete vermehrt erst ab dem Alter von 40 Jahren auf.

Besonders hohes Krebsrisiko bei Kindern unter vier Jahren

Eine klare Dosis-Wirkungs-Beziehung für Schilddrüsenkazinome bestätigen auch Ärzte am Institut für Endokrinologie und Stoffwechsel in Kiew, die kürzlich die Ergebnisse einer Kohortenstudie mit etwa 13 000 Kindern und Jugendlichen veröffentlichten (Environmental Health Perspectives 2011; doi: 10.1289/ehp.1002674). Während einer Nachbeobachtungszeit von insgesamt 73 000 Personenjahren wurden 65 Schilddrüsenkarzinome diagnostiziert. Die – rein rechnerische – Strahlenbelastung lag zwischen 0,09 bis 48 Gray. Mit jedem Gray einer Exposition verdoppelte sich das statistische Risiko für ein Schilddrüsenkarzinom. Am höchsten war das Risiko für Personen, die zum Zeitpunkt des Reaktorunglücks jünger als vier Jahre alt waren.

Mit neuen, für die Allgemeinheit von Tschernobyl ausgehenden Gefahren rechnet die UN-Kommission nicht. „Die Messungen haben ergeben, dass die radioaktive Strahlung in der Sperrzone im Umkreis von 30 Kilometern der Anlage weitgehend abgesunken ist. Es ist in etwa so, als ob man zum Röntgen geht“, sagte Crick in Wien.

UN-Daten rufen bei einigen Institutionen Kritik hervor

Die Daten der UN-Kommission bleiben jedoch aufgrund unterschiedlicher Interessenlagen nicht unwidersprochen: Roland Scheidegger, Strahlenbiologe beim Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorat in Brugg, Schweiz, hält die Datenlage zu Tschernobyl für schlecht („Neue Zürcher Zeitung“ vom 20. März), weil in der ehemaligen Sowjetunion kaum Krebsregister geführt worden seien. „Vor der Katastrophe war das Gesundheitssystem rudimentär, nachher sehr modern“, so Scheidegger. Mit besseren Diagnosemethoden erkenne man heute automatisch mehr Krebsfälle – somit könnte ein beobachteter Anstieg an Tumorerkrankungen eben auch ein Artefakt sein.

Ganz andere Zahlen publizierte 2006 die atomkritische Ärzteorganisation IPPNW gemeinsam mit der Gesellschaft für Strahlenschutz e.V. Die Studie zu den gesundheitlichen Folgen von Tschernobyl stützt sich auf wissenschaftliche Arbeiten, Einschätzungen von Fachleuten und offizielle Angaben von Behörden. Die Analyse der Tschernobyl-Folgen würde jedoch durch erhebliche Wanderungsbewegungen der Menschen aus den mit Radioaktivität belasteten Gebieten in weniger belastete Gebiete erschwert. Zudem seien viele Daten nicht frei zugänglich, weil sie in Ost und West „der Geheimhaltung“ unterlägen.

„Sowohl die Regierungen in Russland, Weißrussland und der Ukraine als auch die der Atomkraftwerke betreibenden Staaten des Westens und die relevanten Organisationen der Vereinten Nationen haben kein Interesse an einer umfassenden und öffentlich überprüfbaren Erforschung der Tschernobyl-Folgen“, meint Pflugbeil. Hinzu komme die Sprachbarriere, die dazu geführt habe, dass wichtige, in russischer Sprache publizierte Studien von der westlichen Fachwelt ignoriert würden.

Zunahme von Missbildungen, Fehl- und Totgeburten

Während der jetzigen Situation in Japan hält Pflugbeil eine Ausweitung der Evakuierungszone rund um das havarierte Atomkraftwerk Fukushima für dringend erforderlich. Gemeinsam mit der IPPNW bittet er die japanische Regierung, die Evakuierung der Bevölkerung so rechtzeitig und weiträumig durchzuführen, dass insbesondere der Schutz von Kindern und Schwangeren gewährleistet sei. Die Empfehlung der US-amerikanischen Atombehörde, die Evakuierungszone auf 80 Kilometer auszudehnen, kann ihm zufolge ein erster Schritt sein.

Der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) indes wirft die IPPNW seit Jahren Unstimmigkeiten bei der Darstellung der Tschernobyl-Folgen vor. Erst vor wenigen Tagen forderte sie die Bundesregierung auf, darauf hinzuwirken, dass die WHO die Öffentlichkeit endlich unabhängig über die gesundheitlichen Auswirkungen von ionisierender Strahlung informiere. „Die WHO-Reaktion auf die atomare Katastrophe von Fukushima ist völlig unzureichend. Wir befürchten eine Interessenkollision mit der IAEA, die die Risiken der Atomenergie seit Jahren herunterspielt“, erklärt Angelika Claußen von der IPPNW dem Deutschen Ärzteblatt.

Den Daten von UNSCEAR stünden andere Untersuchungsergebnisse, beispielsweise die des Biologen Alexej Jablokow, Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften, gegenüber. „Er geht von 900 000 bis 1,8 Millionen Toten weltweit aus“, berichtet Claußen, „die Zahlen beziehen auch künftige Tote mit ein, weil die Tschernobyl-Nuklide weiter in der Biosphäre bleiben.“ Kritisch betrachtet die atomkritische Ärzteorganisation zudem die Fokussierung der Studie allein auf die nähere Umgebung von Tschernobyl.

Humanitäre Hilfe in und aus Deutschland ist gefragt

„Immerhin ist der größte Anteil der Strahlenbelastung, nämlich 53 Prozent, auf andere europäische Staaten als Russland, Belarus und die Ukraine niedergegangen. Dies belegen die Messungen des italienischen Forschers Marc DeCort für die Europäische Union aus dem Jahr 1998“, sagt die IPPNW-Ärztin. Auch werde der enorme Anstieg der schweren Missbildungen, Fehlgeburten und Totgeburten sowohl in der Tschernobyl-Region als auch in Europa von UNSCEAR völlig ignoriert.

Für Claußen steht fest: „Die Atomkraft ist eine Hochrisikotechnologie. Sie ist nicht beherrschbar, angefangen vom Uranbergbau über den laufenden Betrieb bis hin zum Super-GAU und der ungelösten Endlagerproblematik. Sie macht uns Menschen und besonders unsere Kinder krank.“ Auch die globalen Klimaveränderungen seien mit der Atomenergie, die gerade einmal zwei Prozent zur Weltenergieversorgung beitrage, nicht zu stoppen.

„Die Opfer der Tschernobyl-Katastrophe benötigen weiterhin unsere Hilfe“, ist Claußen überzeugt und verweist auf zahlreiche Vereine, die mit IPPNW-Ärzten zusammenarbeiten und sich für die medizinische und humanitäre Unterstützung der Menschen in Weißrussland und in der Ukraine einsetzen. Zu diesen engagierten Ärztinnen und Ärzten gehört Dr. med. Dorothea Wagner-Kolb aus Hamburg, die fünf Jahre nach der Reaktorkatastrophe den „Freundeskreis Tschernobyl-Kinder“ ins Leben rief und 2009 für ihr Engagement das Bundesverdienstkreuz am Bande erhielt.

„Wir haben jedes Jahr Erholungsferien für Kinder aus sozial schwachen Familien organisiert, die in den angrenzenden Dörfern der 30 Kilometer Sperrzone um Tschernobyl leben“, berichtet Wagner-Kolb. Auch wenn diese Kinder nicht an konkreten Erkrankungen leiden würden, sei doch häufig ihr Immunsystem geschwächt und sie seien in ihrer Entwicklung zurückgeblieben, oder sie hätten bereits viel seelisches Leid durch den Tod von Eltern oder nahen Verwandten erfahren.

Krebs durch Tschernobyl? Kinderärztin Dr. med. Kerstin Lieber versucht nicht, eine Kausalität herzustellen. Seit 1985 kümmerte sie sich um fast 700 krebskranke Kinder aus Weißrussland. Foto: Manfred Karremann

Um krebskranke Kinder in Weißrussland dagegen kümmert sich seit Jahren Dr. med. Kerstin Lieber, Kinderärztin und Palliativmedizinerin am Kinderhospiz Sonnenhof in Berlin. Zur Kinderklinik „Borowjani“ bei Minsk, die sie erst vor wenigen Wochen wieder besuchte, hat sie seit Jahren einen engen Kontakt. Sie half den Ärztinnen und Ärzten vor Ort, die Therapie und medizinische Rehabilitation vonKindern mit Tumoren aufzubauen. In den letzten Jahren 18 Jahren sorgte Lieber auch dafür, dass mehr als 700 Kinder und Jugendliche in Deutschland operiert oder mit Prothesen versorgt wurden. Die Kosten trägt der von Lieber ins Leben gerufene Verein „Hilfe für krebskranke Tschernobyl-Kinder e.V.“.

Vereine organisieren und finanzieren die Therapien

Jedes Jahr gehen zwischen 200 000 und 600 000 Euro Spendengelder, hauptsächlich von der Berliner Bevölkerung, aber auch von ärztlichen Kollegen, auf dem Konto des Vereins ein. „Jeder Euro wird für die Versorgung der Kinder verwendet“, versichert Lieber. Die Verwaltung werde ehrenamtlich erledigt. Während früher ein großer Teil der Spenden in den Aufbau der Versorgung vor Ort und in die Ausbildung der weißrussischen Kollegen investiert wurde, werden heute die Gelder fast ausschließlich für die Therapie der krebskranken Kinder und Tumorendoprothesen verwendet. „Wenn unsere weißrussischen Kollegen sich mit der Therapie einiger Kinder überfordert fühlen, schicken sie die Kinder mit ihren Müttern zu uns nach Deutschland. Wir nehmen dann den Kontakt mit Spezialisten auf und organisieren und finanzieren die Behandlung und prothetische Versorgung“, berichtet die Vorsitzende des Vereins. Hauptsächlich handele es sich um Kinder und Jugendliche mit Hirntumoren im Alter von zwei bis 18 Jahren.

Gegründet hat Lieber den Verein vor 18 Jahren. Damals war sie an der Berliner Charité onkologisch tätig und betreute ein Mädchen aus der Region um Tschernobyl, das an einem Knochentumor erkrankt war. Der Wunsch, den Betroffenen zu helfen, hat die Mutter von drei Kindern seitdem nicht mehr losgelassen. Der Frage indes, ob eine Verbindung zwischen dem GAU von Tschernobyl und Krebserkrankungen besteht, versucht Lieber nicht mehr nachzugehen.

„Es gibt einfach keine verlässlichen Zahlen und auch keine Vergleichsdaten“, erklärt sie. „Die Abortrate in der Region wurde nicht erfasst, es wurden auch keine Aborte nachuntersucht.“ Über die Gründe lässt sich nur spekulieren: „Die Bevölkerung der Region um Tschernobyl war von vornherein ein Volk ohne Hoffnung“, ist ihre Überzeugung.

„Vielleicht hat sich keiner um sie bemüht, weil man die Folgen sowieso nicht hätte abwenden können.“ Nachweislich hat bei den weißrussischen Kindern nur der Schilddrüsenkrebs zugenommen. Er sei etwa 30-mal häufiger als vor dem Unglück. Zwar könne sie nicht nachweisen, dass ihre Patienten als direkte Folge vonTschernobyl erkrankt seien, das sei ihr aber auch nicht wichtig, sagt Lieber. „Ich möchte einfach diesen Kindern helfen.“

Dr. med. Vera Zylka-Menhorn
Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann
Dr. rer. nat. Marc Meißner

@Der UN-Bericht im Internet:
www.aerzteblatt.de/11700

KÜNSTLICHE UND NATÜRLICHE STRAHLENBELASTUNG

Die Freisetzung der radioaktiven Stoffe bei einem Reaktorunglück hat weitreichendeFolgen: Zum einen kommt es zu direkten Strahlenschäden bei den Arbeitern im Kernkraftwerk sowie bei den Einsatzkräften. Zum anderen verseuchen die freigesetzten Radioisotope große Gebiete und gelangen damit in Nahrung und Trinkwasser. Dies führt zwar nicht zu unmittelbaren Strahlenschäden, aber es erhöht die Belastung mit sogenannten Niedrigstrahlen.

Diese entsteht im Wesentlichen nicht durch die Strahlung, die die Radioisotope an die Umgebung abgeben. Da es sich um Alphastrahlung handelt, hat sie nicht nur eine geringe Reichweite (weniger als zwei Meter), sondern kann auch schon durch ein Blatt Papier vollständig abgeschirmt werden. Problematisch ist vor allem die Aufnahme radioaktiven Iods und Caesiums mit der Nahrung. Während Iod durch seine geringe Halbwertszeit von acht Tagen schon nach etwa zwei Monaten abgeklungen ist, verbleibt Caesium sehr viel länger als Strahlenquelle im Körper.

Caesium-137 hat eine Halbwertszeit von mehr als 30 Jahren, so dass es mehrere Jahrhunderte dauert, bis keine Strahlung mehr zu messen ist. Relevanter ist in diesem Fall die biologische Halbwertszeit, denn vom Körper aufgenommenes Caesium wird nach circa 110 Tagen wieder ausgeschieden. Diese gilt auch für die radioaktiven Isotope, so dass beispielsweise Caesium-137 bis zu drei Jahren (circa zehn biologischen Halbwertszeiten) im Körper verweilt.

Auch wenn über die Folgen von Niedrigstrahlen sehr kontrovers diskutiert wird, ist eines klar: Je mehr Strahlung man ausgesetzt ist, desto höher ist das Krebsrisiko. Jedes Mal, wenn ionisierende Strahlung – wie radioaktive oder Röntgenstrahlen – auf den Körper trifft, kann es zu einer Veränderung im Erbgut kommen. Wie häufig das passiert, hängt von der Art der Strahlung ab. Wird man gleichen Mengen radioaktiver und Röntgenstrahlung ausgesetzt, dann ist beispielsweise die Chance von Erbgutschäden bei der radioaktiven Strahlung 20-mal höher. Um die Belastung unabhängig von der Strahlungsart anzugeben, hat sich die Einheit Sievert (Sv) etabliert, in der die Stärke der Strahlung und ihre biologische Wirksamkeit verrechnet werden.

Schäden am Erbgut bedeuten jedoch nicht zwangsweise, dass es zu einer Mutation und damit eventuell zu Krebs kommt, denn die einzelnen Zellen verfügen über entsprechende Reparaturmechanismen. Erst wenn diese versagen, kommt es zu einer Veränderung im Erbgut.

Strahlung tritt nicht nur in Zusammenhang mit künstlichen Quellen auf. Wir sind auch täglich natürlicher Strahlung ausgesetzt, die durch radioaktive Isotope in der Umwelt oder auch kosmischer Strahlung verursacht wird. In Deutschland liegt diese Belastung bei 2 bis 5 Millisievert (mSv) pro Jahr. Zum Vergleich: Eine Röntgenuntersuchung liegt bei circa 0,1 mSv, ein Kontinentalflug bei circa 0,02 mSv.

Zählt man die künstliche und natürliche Strahlenbelastung in Deutschland zusammen, dann liegt diese bei circa 4 mSv pro Jahr. Lediglich 0,02 mSv, also nur ein Zweihundertstel der Strahlenbelastung, sind auf die Folgen des Reaktorunglücks in Tschernobyl zurückzuführen. Der geringe Anteil künstlicher Radioaktivität an der Gesamtstrahlenbelastung ist der Grund dafür, dass die gesundheitlichen Folgen vonNiedrigstrahlen nur schwer zu erfassen sind.

Ein Zusammenhang zwischen Strahlenbelastung und Krebserkrankung ist nur in Statistiken zu belegen.

MESSGRÖSSEN UND EINHEITEN

Wenn Atomkerne zerfallen, entstehen verschiedene Arten von Teilchenstrahlung und elektromagnetischer Strahlung, deren Menge, Energieinhalt und biologische Wirksamkeitvon Element zu Element, von Strahlungsart zu Strahlungsart unterschiedlich ist. Je nachdem, welche Aussagen über das radioaktive Material getroffen werden sollen, verwenden Experten unterschiedliche Messgrößen mit ihren Maßeinheiten.

  • Die Aktivität gemessen in Becquerel (Bq) gibt an, wie viele radioaktive Kerne pro Sekunde zerfallen und dabei die sogenannte radioaktive Strahlung erzeugen. Das Becquerel ist recht anschaulich hörbar, wenn man einen Geigerzähler oder ein anderes Messgerät für Radioaktivität verwendet: Ein „Knack“ ist ein radioaktiver Zerfall, einmal pro Sekunde bedeutet dies „1 Becquerel“, bei 100 Knacks pro Sekunde sind es „100 Becquerel“.
  • Die Dosis gemessen in Gray (Gy) gibt an, wie viel Energie (in Joule) durch Strahlung pro Kilogramm Körpergewicht aufgenommen wird.
  • Die Äquivalenzdosis wird in Sievert (Sv) gemessen. Sie wird aus der Energie der Strahlung und ihrer biologischen Wirksamkeit, die nach Art der Strahlung variieren kann, berechnet. Da ein Sievert eine relativ große Einheit ist, sprechen Experten vonMillisievert (= ein Tausendstel Sievert)
  • Die Dosisleistung gibt an, wie viel Energie pro Zeit (also Leistung) pro Kilogramm aufgenommen wird. Normalerweise ist diese klein und liegt im Bereich von wenigen Tausendstel Sievert (Millisievert) pro Jahr.

Aktuelle Messwerte werden auch als Stundenwerte angegeben. In der Berichterstattung über das havarierte Kraftwerk Fukushima in Japan wurde von Werten mit einigen Hundert mSv berichtet, gemeint waren dabei immer mSv/h.

(Quelle: Welt der Physik, herausgegeben von der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, dem Bundesforschungsministerium und der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt)

Veröffentlicht in Verschiedenes

Was die Strahlen im Menschen anrichten

14.03.2011, 09:29 Uhr | Von Cinthia Briseño, Spiegel Online

Strahlenmessungen bei einem Mann aus der Region um das japanische Atomkraftwerk Fukushima (Foto: dpa)

Strahlenmessungen bei einem Mann aus der Region um das japanische Atomkraftwerk Fukushima (Foto: dpa)

Die Störfälle in JapansAtomkraftwerken sorgen weltweit für Besorgnis, Erinnerungen an den Super-GAU von Tschernobyl werden wach. Die zentralen Fragen damals wie heute: Wie schadet radioaktive Strahlung dem Körper, wie kann man sich schützen? Ein Überblick.

Der Feind ist unsichtbar. Er kommt über die Luft, schleicht sich durch undichte Ritzen in den Fenstern und Türen, der Mensch atmet die Luft ein, kann nicht zwischen guter und schlechter Luft unterscheiden. Nach dem Inhalieren breiten sich die gefährlichen Partikel im Körper aus. Auch über die Haut können sie in den Körper gelangen. Dann lagern sie sich im Gewebe an und entfalten ihre zerstörerische Kraft.

20 Jahre nach dem Unfall in Tschernobyl verzeichnen die am meisten betroffenen Regionen einen Anstieg der Krebskranken um 40 Prozent.

Radioaktive Strahlung - ab welcher Dosis wird es gefährlich? (Grafik: dpa)Radioaktive Strahlung – ab welcher Dosis wird es gefährlich? (Grafik: dpa)Strahlung zerstört wichtige Enzyme

Das, was dem Körper so zu schaffen macht, sind aber nicht die radioaktiven Partikel selbst. Es ist die sogenannte ionisierende Strahlung, die von ihnen ausgeht. Das Radionuklid Iod 131 etwa gehört zu den Beta-Minus-Strahlern. Das heißt, aus dem Nuklid schießen laufend Elektronen in die Umgebung. Alle biologischen Moleküle, auch das Wasser im Körper, bremsen diese Strahlung zwar ab. Doch dabei wird Energie frei, die ionisierend wirken kann: Sie zerstört die Atomhüllen von Molekülen und schlägt dabei Elektronen heraus. Positiv geladene Molekülreste bleiben zurück. Experten sprechen von Radikalen.

JAPAN: BILDER EINER KATASTROPHE
  • Die stark verstrahlten Reaktorgebäude von Fukushima I werden durch ferngesteuerte Roboter erkundet: Die Maschinen sind mit Sensoren ausgestattet, um die Strahlung zu messen - anhand der Messwerte soll entschieden werden, ob auch Menschen innerhalb der Meiler arbeiten können. (Foto: AP)
  • Arbeiter versprühen Kunstharz in den Überresten des Atomkraftwerks. Die Betreiberfirma Tepco hofft, mit dieser Maßnahme radioaktive Partikel „festzukleben“ und somit ihre Verbreitung zu verhindern. Experten wie beispielsweise Karsten Smid von Greenpeace bezweifeln den Nutzen, nennen diese Pläne gar „wahnwitzig“. (Foto: Tepco / dpa)
  • Eine Frau trägt ihre Tochter durch die Trümmer ihrer Heimatstadt Yamada. (Quelle: Reuters\Carlos Barria)
  • Angehörige der Opfer des Erdbebens und Tsunamis nehmen in Kesennuma  bei einer Trauerfeier mit anschließender Massenbeisetzung am offenen Sarg Abschied. (Foto: Damir Sagoli/ Reuters)
  • Soldaten der US-Navy messen in Kesenuma die Strahlenbelastung des Bodens.  (Quelle: dpa\Asahi Shimbun / epa / dpa)
  • Ein Fischer bricht in Tränen aus, nachdem er die Trümmer seines zerstörten Bootes in Yamada gefunden hat.  (Quelle: Reuters\Carlos Barria)
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Vereinzelt richten Radikale keine größeren Schäden an, doch je größer die ionisierende Strahlung ist, desto mehr Radikale entstehen. Dann kann es im Körper selbst zu einer Art GAU kommen: Eine gefährliche chemische Kettenreaktion beginnt, in der die geladenen Teilchen miteinander reagieren, um wieder stabile Verbindungen einzugehen. Da diese chemischen Reaktionen jedoch unkontrolliert ablaufen, entstehen dabei mitunter Verbindungen, die in der Zelle keinen Sinn ergeben.

So kann ionisierende Strahlung wichtige Enzyme funktionsunfähig machen oder ganze Zellbausteine zerstören – sind die Schäden zu groß, stirbt die Zelle. Aber auch das Erbgut ist für ionisierende Strahlung anfällig. Werden aus dem DNA-Molekül Elektronen herausgeschlagen, kann das zu Veränderungen der Erbinformation führen, die bei der nächsten Zellteilung an die Tochterzellen weitergegeben werden. Je größer die Schäden an der DNA sind, desto höher ist langfristig das Risiko für Krebs.

FOTO-SERIE: ZERSTÖRUNG IN JAPAN
  • Das Jahrhundertbeben in Japan vom 11. März und der dadurch ausgelöste Tsunami haben weite Landstriche Japans verwüstet. (Foto: dpa)
  • Nahrungsmittel und Wasser wurden rasch knapp. (Foto: dpa)
  • Die Regale in den Supermärkten waren leergekauft. (Foto: dpa)
  • Vielerorts kam es zu Bränden, so auch am Hafen von Hitachi, wo Dutzende Autos ausbrannten. (Foto: Reuters)
  • Ein Kampfflugzeug wurde von dem Tsunami gegen ein Gebäude auf dem Flugplatz in Matsushima gedrückt. (Foto: dpa)
  • Zerstörte Gebäude in Minamisanriku. Die Provinz Miyagi traf es besonders hart. (Foto: Reuters)
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Körper kann natürliche Strahlendosis kompensieren

Mit vielen Schäden kann der Körper umgehen. Menschen sind tagtäglich der natürlichen radioaktiven Strahlung im Boden oder der Atmosphäre ausgesetzt. Der menschliche Organismus hat aber Abwehrmechanismen entwickelt, um sich vor diesen Belastungen zu schützen. Er kann DNA-Schäden reparieren oder geschädigte Strukturen in der Zelle gezielt abbauen.

Bei einer Katastrophe wie etwa in Tschernobyl stoßen diese natürliche Schutzfunktionen jedoch an ihre Grenzen. Am stärksten betroffen waren die Liquidatoren von Tschernobyl, jene Hunderttausende von Menschen, die die Aufräumarbeiten nach dem Reaktorunfall verrichten mussten. Schätzungen zufolge sind allein in Russland 25.000 von ihnen bereits verstorben. Nach Angaben der Internationalen Atomenergiebehörde starben 56 Menschen sofort. Die meisten von ihnen an den Folgen der Strahlenkrankheit, die akut nach einer zu hohen Strahlenbelastung auftritt.

Die Strahlenkrankheit kann bei einer kurzfristigen Belastung von 0,25 Sievert auftreten. Das sind 250 Millisievert. Zum Vergleich: Die durchschnittliche Belastung aus der Umwelt beträgt nach Angaben des Bundesamts für Strahlenschutz (BfS) derzeit etwa 2,1 Millisievert pro Jahr. Eine Kurzzeitbelastung von vier Sievert gilt als tödlich.

Erste Symptome: Kopfschmerzen, Übelkeit und Erbrechen

Die Strahlenkrankheit hat viele Gesichter. Wie schwer sie ist, hängt davon ab, welches Gewebe wie stark von der Strahlung betroffen ist. Erste Symptome sind Kopfschmerzen, Übelkeit und Erbrechen. Sie treten wenige Stunden nach dem Beschuss des Körpers mit der Strahlung auf. Dann klingen sie vorübergehend ab, um nach einigen Tagen als Appetitlosigkeit, Übermüdung und Unwohlsein zurückzukehren und einige Wochen anzudauern. Menschen mit einer solchen leichten Strahlenkrankheit erholen sich zwar in der Regel wieder. Doch oft bleibt das Immunsystem ein Leben lang geschwächt, und die Betroffenen haben häufiger mit Infektionserkrankungen zu kämpfen.

Noch ist unklar, wie stark die Strahlenbelastung der Personen war, die sich im näheren Umkreis des Reaktors Fukushima aufgehalten hatten. Den Menschen in der Umgebung bleibt zu hoffen, dass die Regierung ihre Warnungen rechtzeitig ausgesprochen hat, so dass sie sich in ihren Häusern vor der Strahlung schützen konnten.

Offizielle Meldungen über schwere Strahlenkrankheiten oder gar Tote hat es bisher nicht gegeben. Wie qualvoll eine akute Strahlenkrankheit enden kann, zeigen die Opfer der Atombombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki und die Tschernobyl-Katastrophe. Haarausfall, unkontrollierte Blutungen, ein zerstörtes Knochenmark, Koma, Kreislaufversagen und andere dramatische Auswirkungen können den Tod bringen.

Bekannteste Folge ist Leukämie

Was aber, wenn keine unmittelbaren Folgen auftreten? Dann ist die Gefahr immer noch nicht gebannt, denn das Risiko von Spätfolgen erwarten Strahlenmediziner schon ab einer Dosis von 0,2 Sievert. Denn dann ist die Wahrscheinlichkeit von DNA-Schäden, die der Körper nicht mehr reparieren kann, so hoch, dass im Laufe der Jahre Krebs entstehen kann.

Die bekannteste aller Spätfolgen ist Blutkrebs, die Leukämie: Die Radionuklide Strontium 90 und Cäsium 137 lagern sich in das Knochengewebe und sorgen so ein erhöhtes Krebsrisiko. Experten nennen diese Substanzen gerne knochensuchend, weil der Körper diese Substanzen mit Calcium verwechselt und sie bei den üblichen physiologischen Prozessen in Muskel- und Knochengewebe einbaut.

Dieses ist besonders empfindlich, denn im Knochenmark läuft die Bildung neuer Blutkörperchen ab. Kommt ionisierende Strahlung ins Spiel, kann die Blutkörperchenbildung außer Kontrolle geraten und zu Leukämie führen. Gleichzeitig erhöhen Strontium 90 und Cäsium 137 auch das Risiko für Knochenkrebs.

Bei diesen Folgen ist der Mensch so gut wie machtlos. Er kann lediglich versuchen, die Strahlenbelastung durch ausreichend Abstand zur Strahlenquelle so gering wie möglich zu halten. In Japan wurde das Gebiet 20 Kilometer um den Reaktor bereits evakuiert. Manche Experten aber sagen, ein weitaus höherer Umkreis sei notwendig.

So gut wie machtlos sind Menschen gegenüber der Substanz Plutonium 239. Meldungen zufolge könnte auch diese Substanz aus dem Fukushima Reaktor entwichen sein, da im Reaktor 3 des Kraftwerks seit einigen Monaten sogenannte Mischoxid-Brennelemente eingesetzt wurden, die auch Plutonium enthalten. Es reicht, 40 Milliardstel Gramm davon zu inhalieren, um eine akute Strahlendosis von 15 Sievert im Körper zu verursachen. Dann kommt es zu einer schweren Strahlenkrankheit, die innerhalb weniger Tage tödlich endet. Dafür hat radioaktives Plutonium einen entscheidenden Vorteil: Es gehört zu den Alphastrahlern. Das heißt, die Strahlung des Plutoniums reicht in der Luft nur einige Zentimeter weit und wird zum Beispiel schon von einem Blatt Papier oder von Stoffhandschuhen vollständig zurückgehalten.

Iod-Tabletten schützen – wenn sie rechtzeitig eingenommen werden

Etwas besser kann sich die Bevölkerung vor den Folgen durch Iod 131 schützen – mit Kaliumiodidtabletten, die japanische Behörden für ihre Bevölkerung nun in ausreichender Menge bereitstellen wollen. Iod 131 lagert der Körper genauso wie das nicht radioaktive Iod 127 in der Schilddrüse ein. Der größte Teil des Tschernobyl-Fall-outs ging 1986 über dem heutigen Weißrussland nieder. Zehn Jahre nach der Katastrophe waren dort 424 Kinder an Schilddrüsenkrebs erkrankt. Das entsprach einer Häufigkeit von 3,5 bis 4 Krebsfällen auf 100.000 Kinder – zehnmal mehr als der weltweite Durchschnitt.

Geschützt ist man aber durch Iod-Tabletten nur, wenn man sie rechtzeitig einnimmt, also vor der Kontamination und in ausreichenden Dosen. Auf diese Weise ist die Schilddrüse mit Iod abgesättigt und lagert kein weiteres, radioaktives Iod ein. Ob die Bevölkerung in nächster Umgebung aber rechtzeitig an die Tabletten kam, ist unklar.

Derzeit lässt sich nur spekulieren, welche gesundheitliche Schäden der unsichtbare Feind in Japan angerichtet hat. Es hängt auch davon ab, wie sich die Lage der Reaktoren weiter entwickeln wird und ob die schlimmsten Befürchtungen eines Super-GAUs noch eintreten werden.

Behörden messen gefährliche hohe Strahlung in Tokio

13.10.2011, 14:49 Uhr

 

Eine der größten Metropolen der Welt: Wie verstrahlt ist Japans Hauptstadt Tokio? (Quelle: dpa)

Eine der größten Metropolen der Welt: Wie verstrahlt ist Japans Hauptstadt Tokio? (Quelle: dpa)

Hohe Radioaktivität in Tokio - aber mit der Atomkatastrophe vonFukushima hat es nichts zu tun. Am Donnerstag wurden an der Gartenmauer eines Hauses im Stadtteil Setagaya bis zu 3,35 Mikrosievert pro Stunde gemessen – ein Wert knapp unter der Evakuierungsgrenze.

Bei einer Hochrechnung entsprechend den Vorgaben des japanischen Wissenschaftsministeriums ergebe dies nämlich einen Jahreswert von 17,6 Millisievert. Ab 20 Millisievert im Jahr wäre laut geltenden Regelungen eine Evakuierung des Gebiets erforderlich.

Strahlung stammt nicht aus Fukushima

Nach NHK-Angaben wurde die Strahlung einen Meter über dem Boden an einer Hecke gemessen. Andere Stellen auf dem Bürgersteig wiesen demnach niedrigere Werte auf. Die städtischen Behörden in Tokio bestätigten die Angaben nur indirekt. Genaue Gründe für mögliche hohe Strahlungswerte seien nicht bekannt, sagte eine Sprecherin. Experten seien dabei, die Zahlen zu prüfen und das betroffene Gebiet zu dekontaminieren.

Tokios Stadtverwaltung trat aber der Befürchtung entgegen, die Strahlung stamme aus dem 230 Kilometer entfernten Unglücks-Kraftwerk Fukushima Daiichi. Als Ursache der Strahlung in Setagaya wird eine aufgefundene Flasche vermutet. Ihr genauer Inhalt wurde nicht bekannt.

Radioaktive Strahlung – ab welcher Dosis wird es gefährlich? (Grafik: dpa)Die Nervosität in Japan wächst dennoch, zumal auch an anderen kleinen Stellen im Raum Tokio weitab der Unglücksreaktoren hohe Strahlenwerte gemessen wurden. Würde ein Mensch über ein Jahr hinweg nahe der Strahlenquelle von Setagaya acht Stunden am Tag draußen und den Rest des Tages im Haus verbringen, wäre er einer akkumulierten Dosis von 17 Millisievert ausgesetzt. Die von der Regierung erlaubte und international empfohlene Höchstgrenze beträgt 20 Millisievert.

Starke Strahlung in Freizeitpark

Unterdessen entdeckten Bürger in Funabashi in Tokios Nachbarprovinz Chiba eine Strahlenmenge von 5,82 Mikrosievert am Boden eines Kinder-Freizeitparks. Dieser Wert liegt über der Dosis von 2,17 Mikrosievert, die am Vortag im Dorf Iitate in Fukushima gemessen wurde. Der Ort liegt 45 Kilometer vom Kraftwerk Fukushima entfernt und ist eines der ausgewiesenen Evakuierungsgebiete. Funabashi ist 210 Kilometer vom Akw entfernt.

Bereits am Mittwoch hatten die Behörden des westlichen Stadtteils bekannt gegeben, in der vergangenen Woche an einer Stelle einen Radioaktivitätswert von 2,7 Mikrosievert pro Stunde gemessen zu haben. Sie wiesen Schulkinder an, den betroffenen Gehweg zu meiden. Das havarierte Atomkraftwerk Fukushima liegt 220 Kilometer von Tokio entfernt. Es wurde am 11. März von einem Erdbeben und einem anschließenden Tsunami getroffen.

Kürzlich waren in Ablagerungen auf einem Dach eines Wohngebäudes in Yokohama, rund 250 Kilometer vom AKW entfernt, ungewöhnlich hohe Mengen von radioaktivem Strontium gefunden worden. Wissenschaftler sprechen bei Strontium auch von einem “Knochenkiller”. Es schädige das Knochenmark und könne Leukämie (Blutkrebs) auslösen.

Sieben Monate nach dem Unglück entweicht aus Fukushima Daiichi weiterhin Radioaktivität, allerdings erheblich weniger als zu Beginn der Katastrophe in Folge des Erdbebens und Tsunami vom 11. März. Nach offiziellen Angaben liegt die Konzentration bei 200 Millionen Becquerel pro Stunde, rund ein 4-Millionstel der Menge zu Beginn der Krise.

Japaner wollen Meeresboden vor Fukushima zubetonieren

22.02.2012, 11:17 Uhr

 

Das Meer vor Fukushima ist offenbar immer noch hoch verstrahlt (Quelle: Reuters)

Das Meer vor Fukushima ist offenbar immer noch hoch verstrahlt (Quelle: Reuters)

Vor dem havarierten japanischen Atomkraftwerk Fukushima soll der Meeresboden zubetoniert werden. Wie der Kraftwerks-Betreiber Tepco mitteilte, wird die Betondecke 60 Zentimeter dick und mehr als 73.000 Quadratmeter groß sein – das entspricht etwa zehn Fußballfeldern.

Damit solle eine weitere Verschmutzung des Ozeans verhindert werden, sagte eine Sprecherin. Bei Messungen in der Bucht seien “relativ hohe Konzentrationen radioaktiver Stoffe im Meeresboden” festgestellt worden.

Durch ein verheerendes Erdbeben und einen anschließenden Tsunami war die Atomanlage in Fukushima am 11. März 2011 schwer beschädigt worden. In den Wochen und Monaten nach der Katastrophe gelangte Radioaktivität in die Umwelt und verstrahltes Wasser ins Meer. Zehntausende Menschen mussten das radioaktiv verseuchte Gebiet rund um das Kraftwerk verlassen.